Rollenspezifisches Verhalten

Wenn ein Kind als Mädchen definiert wird, behandeln es alle gemäß ihren bewussten und unbewussten Vorstellungen von der Mädchenrolle. Nach ca. 18 Monaten hat es ein Gefühl dafür entwickelt, ein Mädchen zu sein. Im Alter von drei Jahren ist seine Geschlechtsidentität als weibliches Wesen unumstößlich etabliert. Es weiß dann nicht nur, dass es ein Mädchen bzw. ein weibliches Wesen ist, sondern auch, wie sich ein Mädchen in dieser Welt zu verhalten hat, selbst wenn der Chromosomensatz des Kindes ein männlicher ist oder es männliche Geschlechtsorgane besitzt ( Bell, 1991, Bischof et. al., 1980). Die Einflüsse von Erziehung und Umwelt wirken beim Menschen offensichtlich prägender als die biologischen Einflüsse.

Vor ca. 2 Jahren las ich die obige Erkenntnis zum ersten Mal und seitdem definiere ich alles was ich in meiner Frauenrolle tue neu.

Ich habe meine Logopädin gefragt, ob das weiblich artikulierte sprechen genetisch vorgegeben ist oder ob es eine rollenspezifisch anerzogene Form des Sprechens ist. Da sie an einer staatlichen Schauspielschule Sprech- und Gesangsunterricht gibt und selbst bis zum 40zigsten Lebensjahr Schauspielerin gewesen war, hatte sie gerade was geschlechterspezifisches Rollenverhalten anbelangte sehr viel Erfahrungswerte sammeln können. Wir kamen beide zu dem Ergebnis, dass das weiblich artikulierte Sprechvermögen keine genetische Veranlagung, sondern einzig und alleine der rollenspezifischen Erziehung zuzuschreiben ist. Somit ist diese rein auf Gefühle beruhende Sprechweise der Frauen auch für uns erwachsene TS-Frauen, die in der männlichen Rolle sozialisiert wurden, erlernbar.

Alles was Mann oder Frau macht ist einem bestimmtem Rollenmuster zuzuordnen, welches wir von Geburt an anerzogen bekommen, denn es gibt von Natur aus keine typischen männlichen oder typischen weiblichen Verhaltensweisen. Das anerzogene und erlernte Schubladendenken macht es den Männern besonders schwer ihre weiblichen Anteile ausleben zu können. Tun sie das, werden sie, gerade von Männern, sofort in die schwule Ecke ausgegrenzt. Und wer möchte schon ausgegrenzt sein? Keiner!

Also sind wir alle bestrebt brav unsere Rolle zu spielen welche uns die gesellschaftliche Ordnung zugeteilt hat. Diese Zuteilungsordnung wollen wir TS-Frauen ja bloß nicht durcheinanderbringen, wenn wir in die weibliche Rolle überwechseln. Viele TS-Frauen sind bestrebt sich soweit anzugleichen, so dass sie unter biologischen Frauen nicht mehr auffallen. Sie kopieren zu 100 % die weiblichen Verhaltensweisen (ich sage immer "geklont" dazu) und die damit verbundenen Dogmen. Diese Dogmen definieren ganz klar welche Verhaltensweisen Männern und welche Verhaltensweisen Frauen zuzuordnen sind. Ein Teufelskreislauf? Die eine Rolle hat es nicht zugelassen, dass wir als Mann unsere weiblichen Anteile ausleben durften (z. B. in der Kleidung, anlehnen, weinen etc.) und die andere, selbstgewählte neue Rolle zwingt uns zu rein typischen weiblichen Verhaltensweisen, denn wir wollen doch nur nicht auffallen. Und da wir alle aus der männlichen Erziehungsrolle kommen, in der wir von Beginn unseres Lebens an alle weiblichen Teile unterdrücken mussten, so wechseln wir für den Rest unseres Lebens in die weibliche Rolle, in der wir dann wiederum brav alle männlichen Anteile in uns unterdrücken werden. Alles ist Paletti, da wir ja alle brave angepasste BürgerInnen sind. Wenn nur unser Gewissen zufrieden ist, so sind wir das auch! Ob unsere Psyche das auf Dauer mitmacht? Ich glaube das kaum, denn ich weiß, dass die an ihre Umgebung hyperangepassten ungeouteten TS-Frauen irgendwann als Suizidpatientinnen in der Psychiatrie zu den Stammgästen zählen werden. Denn wer kann schon lange in seinem Lügenabstrakt ohne eine Vergangenheit leben.

Ein Naturgesetz sagt: Ohne Vergangenheit gibt es keine Gegenwart und ohne Gegenwart keine Zukunft.

Und eines ist ganz sicher, selbst die TS-Weiber, welche schon mit 14 Jahren angefangen haben ihre Frau zu leben und die niemals wirklich die männliche Rolle gelebt haben, sind an bestimmten Merkmalen als ehemalige Männer zu identifizieren und das obwohl sie zum Teil als biologisches weibliches Model durchgehen könnten.

Die lesbischen biologischen Frauen definieren uns so: Wir sind zu Frauen umoperierte Männer! Als ich diesen Satz zum ersten Mal gelesen hatte, habe ich sehr wütend reagiert. Nachdem ich mir die Worte einige Male durch den Kopf gehen lassen habe, muss ich sagen, sie haben Recht. Denn fast alles was an uns Frau ist, ist adaptiert, denn nichts ist wirklich an uns natürlich weiblich. Unsere Knochen bleiben männlich, unsere Gene bleiben männlich, unser Busen ist meistens mit Silikon aufgefüllt, unsere Neovagina ist künstlich, unsere Verhaltensweisen sind mit harter Arbeit auf Frau getrimmt, unsere Sprechweise ist antrainiert (Logopädie) denn unsere Stimmbänder bleiben männlich, es sei denn, sie wurden durch eine Operation gekürzt (wieder künstlich). Das einzige was uns von der Natur als weiblich mitgegeben wurde, ist unsere gefühlsbetonte Seele.

Werde ich mir all dieser Dinge bewusst, so muss ich mich fragen, was bin ich eigentlich?

Ich habe eine Definition für mich gefunden, die da lautet, ich bin Androgyn!

Für mich bedeutet Androgynität, das ich meine weiblichen und männlichen Anteile harmonisch nebeneinander leben lassen kann, ohne das ich gemäß den Rollenklischees unserer Gesellschaftsordnung den einen oder den anderen Teil unterdrücken muss. Ich nehme einfach beide Teile und forme daraus die INA. Die INA hat dadurch an Freude und Macht gewonnen.

Und wenn heute jemand zu mir sagt, du warst ja ein Mann, das erkenne ich da und da ran, dann sage ich nur, ja, ich war "nur ein Mann", aber heute bin ich ein Mann und eine Frau.

Ina